Schauspiel im Selfstorage-Haus
Film- und Theater-Requisiten lagern bestimmt zuhauf in den Abteilen von MyPlace-SelfStorage. Schauspieler*innen, Publikum und Regisseur*innen erwartet man wohl eher weniger in einem Selfstorage-Haus. Doch in der Stuttgarter MyPlace-Filiale in der Pragstraße 130 sind sie momentan häufig anzutreffen: Das Stuttgarter Theater LOKSTOFF! Theater im öffentlichen Raum spielt aktuell seine neue Produktion „GESTERN.MORGEN.HEUTE.“ in den Räumen des Lagerraumanbieters. Produktionsleitung Nicola Merkle erklärt uns, was den öffentlichen Raum als Theaterbühne ausmacht und wieso das Stück ausgerechnet in einem Selfstorage-Haus gespielt wird.
Warum spielt das Theater LOKSTOFF! nur im öffentlichen Raum? Was ist am öffentlichen Raum als Theaterbühne so spannend?
Indem wir Orte der Öffentlichkeit für unsere Produktionen aufsuchen, wird der öffentliche Raum in seiner politischen, kulturellen und urbanen Dimension selbst zum Gegenstand unserer Stücke. So können wir die Zuschauenden dazu anregen, darüber nachzudenken, welch enormen Stellenwert der öffentliche Raum hat und welche Rolle er für ein funktionierendes Gemeinwesen spielt. Gleichzeitig erzielen wir den schönen Nebeneffekt, dass Menschen auf uns aufmerksam werden, die selten oder noch nie im Theater waren. Und das passiert nicht nur durch die Aufführungen, sondern bereits durch die Proben. Viele Passant*innen, die uns durch Zufall sehen, kommen als Publikum wieder.
Keine Sitzplätze, kühl und manchmal eng: Als Zuschauer*in einem Theaterstück im öffentlichen Raum zu folgen – das stellt man sich eher unbequem vor. Warum ist Ihr Konzept dennoch so erfolgreich? Was fasziniert das Publikum an dieser besonderen Form des Theaters?
Durch die ungewöhnlichen Orte und die Aktion fühlen sich die Menschen direkt angesprochen. Wir bringen das Theater zu den Menschen und spielen dort, wo das Leben ist. Die Vermischung von Kunst und Realität ist das Besondere an unserer Form des Theaters. Wir suchen konkrete Orte, die den zeitgenössischen urbanen Alltag spiegeln, wo Architektur und Infrastruktur das Leben bündeln und Menschen aufeinandertreffen. Die Orte werden atmosphärisch durch die Aufführung verdichtet. Es ist der Ort mit seinen Menschen, der das Drehbuch jedes Stückes mitschreibt und das Zugpferd des jeweiligen Abends bildet.
Vor allem junge Menschen fühlen sich davon angesprochen, was uns besonders freut.
Entsteht zuerst das Stück und dann suchen Sie nach einer geeigneten Location? Oder wird das Stück der Location "auf den Leib geschneidert"? Wie kann man sich diesen Prozess vorstellen?
Zuerst steht immer eine grobe Idee. Wir überlegen uns: Was beschäftigt die Gesellschaft im Moment? Was ist aktuell ein Thema? Und der Rest geht dann Hand in Hand. Wir feilen an unserem Konzept, wie man das Thema inhaltlich umsetzen kann, und sehr schnell kommen wir auf eine Location, an der sich das Ganze am besten umsetzen lässt. Der Ort inspiriert uns dann wiederum zu neuen Ideen. Das kann auch in Form von Hürden oder Problemen geschehen, die uns vor Ort gestellt werden, sodass wir ursprüngliche Pläne verwerfen müssen – und meist kommt dann etwas viel Besseres dabei heraus als das eigentlich Geplante.
Warum war ein Selfstorage-Haus interessant für Sie? Und wie ist das Besucherfeedback auf das Theaterstück in einem Selfstorage-Haus?
In seiner reinen Funktionalität bietet ein Selfstorage-Haus keinen Raum für Identitätsstiftung und zwischenmenschliche Relationen. Keine Box unterscheidet sich von der anderen. Erst durch die Dinge, die hineingelegt werden, werden sie zu eigenständigen Erinnerungskapseln. Das macht den Ort zur idealen Projektionsfläche für unser Thema. Die Zuschauenden fühlen sich vor allem durch die Interaktion angesprochen. Viele erzählen uns nach der Aufführung, dass es ihnen besonders gefallen hat, selbst die Boxen zu begehen, sich umschauen und die Dinge auf sich wirken lassen zu können. So konnten sie sich viel intensiver auf das Thema einlassen. Und genau das wollten wir erreichen: Wir wollten jeden Zuschauenden mit seiner persönlichen Haltung zum Thema Erben konfrontieren.
Wo würden Sie gerne noch spielen? Gibt es Locations, die Sie besonders spannend fänden?
Lange schon hatten wir uns gewünscht, einen Bauernhof zu bespielen – was wir mit unserer Neuproduktion im Herbst endlich realisieren werden. Es gibt aber noch so viele andere Orte, die es wert wären, zum Mittelpunkt einer Inszenierung gemacht zu werden. Besonders spannend sind Orte, an die wir jetzt gar nicht denken, weil es sie so in der Öffentlichkeit noch nicht gibt. Vor gut 20 Jahren hätte zum Beispiel auch niemand an ein Selfstorage-Haus wie das von MyPlace gedacht.
Welches Potenzial sehen Sie allgemein darin, noch mehr Kunst und Kultur im öffentlichen Raum stattfinden zu lassen?
Kunst im öffentlichen Raum – egal ob Theater, Musik oder bildende Kunst – ist barrierearm und ermöglicht einen einfachen Zugang. Kunst und Kultur ist für eine gesellschaftliche Basis so unendlich wichtig, dass ich hoffe, dass Kunst im öffentlichen Raum einen noch größeren Stellenwert erhalten wird. Vor allem während der Corona-Pandemie haben sich viele „abgewöhnt“, kulturelle Veranstaltungen zu besuchen. Dass es aber ein anderes, ganz besonderes Erlebnis ist, physisch anwesend zu sein und sich mit anderen Menschen, dem Publikum, den Künstler*innen, Techniker*innen usw. einen Raum zu teilen, ist dabei manchmal in Vergessenheit geraten. Bringt man die Kultur nun aber dorthin, wo die Menschen sind, kann man sie daran erinnern oder sie ganz neu dafür begeistern. Der öffentliche Raum ist unsere Lebenswelt – durch Aufführungen, die dort spielen, wo das Leben ist, werden die Menschen dazu eingeladen, sich wieder auf ein richtiges Kulturerlebnis einzulassen.
Platzprofessor Redaktionsteam
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